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21. April 2023

Soziale Herkunft und Chancengerechtigkeit: auf dem Weg zu mehr Diversität im MINT-Bereich

  • Diversität
  • Gute Praxis

Geschätzte Lesedauer: ca. 7 Minuten

Eine gute MINT-Bildung, die berufliche Chancen und gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht, sollte eigentlich allen Kindern offenstehen – unabhängig davon, welche finanziellen Mittel ihre Eltern haben oder welche Sprache zuhause gesprochen wird. Doch Fakt ist: Die soziale Herkunft wirkt sich stark auf die Chancengleichheit in der MINT-Bildung aus. Ob in Schülerforschungszentren und Makerspaces, an Schulen und Hochschulen oder in Unternehmen: MINT-Angebote erreichen Kinder und Jugendliche aus sozioökonomisch benachteiligten Familien oft nicht oder nicht ausreichend. Das hat auch Auswirkungen auf den angespannten Markt der MINT-Fachkräfte. Wo können wir ansetzen, um das zu verändern?

Eine Auftragsstudie von MINTvernetzt zeigt: In Deutschland spielt die soziale Herkunft eine wichtige Rolle dabei, wie sehr sich Kinder und Jugendliche für MINT-Disziplinen interessieren, wie gut sie in diesen Fächern abschneiden und wie wahrscheinlich es ist, dass sie sich für einen entsprechenden Beruf entscheiden. Vom Ideal der Chancengleichheit sind wir weit entfernt. Denn der Bildungserfolg hängt nicht nur von Talent oder Motivation ab, sondern auch vom sozioökonomischen Status der Eltern.¹ Und das hat mehrere Gründe.

Soziale Herkunft: Hürden für eine erfolgreiche MINT-Bildung

Dass Kinder und Jugendliche aus sozial benachteiligten Familien schlechtere Bildungschancen im Allgemeinen – und im MINT-Bereich im Speziellen – haben, setzt schon sehr früh ein: beim Zugang zu frühkindlichen Bildungsangeboten und in der Schule. Dabei können sich unterschiedliche Dimensionen von Diversität beeinflussen und gegenseitig verstärken. Oft gibt es zum Beispiel einen Zusammenhang zwischen geringem sozioökonomischem Status einer Familie und Migrationshintergrund. Kinder, in deren Zuhause nicht oder nur wenig Deutsch gesprochen wird, haben es im Unterricht zunächst häufig schwerer und schneiden in der Folge auch in MINT-Fächern oft schlechter ab. Bewusste oder unbewusste Vorurteile der Lehrkräfte können diese Ungleichheiten noch zusätzlich verstärken.

Auch das Angebot an außerschulischen Bildungsprojekten und Lernorten, die junge Menschen für MINT begeistern wollen, ist nicht für alle gleichermaßen zugänglich. Zwar gibt es viele kostenfreie Angebote, aber die Teilnahme an gebührenpflichtigen Workshops oder Kursen können nicht alle Familien ihren Kindern ermöglichen. Und auch die Projektorte selbst können zur Hürde werden – wenn Eltern und Kinder sie aus Mangel an Zeit oder Mobilitätsoptionen nur schwer erreichen können. Nicht zuletzt kann sich auch der Bildungsstatus der Eltern negativ auf die Chancen der nächsten Generation auswirken. Denn viele Jugendliche treffen ihre eigenen Berufsentscheidungen vor dem Hintergrund der Bildungserfahrungen in der Familie.¹

Mehr Diversität – mehr MINT-Fachkräfte

Für die betroffenen Kinder und Jugendlichen hat diese Chancenungleichheit weitreichende Folgen: Oft können sie ihr volles Potential nicht ausschöpfen und es kann schwieriger für sie sein, an gesellschaftlichen Prozessen und Debatten teilzunehmen. Auch Bildungswege und Berufe können ihnen wegen fehlender Abschlüsse verschlossen bleiben.¹ Schon allein deswegen sollten MINT-Angebote diese Zielgruppen verstärkt in den Fokus nehmen. Denn gerade MINT-Berufe gelten als Chancenberufe und bieten gute Möglichkeiten für einen Bildungsaufstieg.2

Auch mit Blick auf den anhaltenden Fachkräftemangel in MINT-Berufen erscheint es sinnvoll und wichtig, sich stärker bislang vernachlässigten Personengruppen zu widmen. Laut MINT-Herbstreport 2022 ist die MINT-Lücke in den letzten Jahren weiter gestiegen und liegt – über sämtliche Berufskategorien hinweg – bei rund 326.000 Personen.2 Zeitgleich ist die Zahl der Studienanfängerinnen und -anfänger in MINT-Fächern gesunken, die Wechsel- und Abbruchquote ist mit rund 53 % (2020) extrem hoch.3 Es besteht also dringender Handlungsbedarf. Denn die MINT-Lücke wird aufgrund von Faktoren wie zunehmender Digitalisierung, Ausbau von Klimaschutzbemühungen und einer alternden Gesellschaft weiter wachsen.2 Eine gezielte MINT-Förderung von Kindern und Jugendlichen, die bisher nur selten erreicht wurden, würde also nicht nur für mehr Diversität im MINT-Bereich sorgen, sondern wäre ein Gewinn für alle Seiten.

Der schwierige Weg zu mehr Diversität im MINT-Bereich

Es gibt viele strukturelle Probleme, die dazu beitragen, dass es bislang zu wenig Diversität – gerade mit Blick auf die soziale Herkunft – in der außerschulischen MINT-Bildung und in MINT-Berufen gibt: historisch gewachsene Diskriminierungsformen, die den Zugang zu Bildungsinstitutionen erschweren, ein Mangel an Diversitätssensibilität in Unternehmen, aber auch das wenig durchlässige Bildungssystem in Deutschland, in dem bereits früh die Weichen für oder gegen einen bestimmten Werdegang gestellt werden.¹ Komplexe Probleme, die von einzelnen MINT-Akteur:innen nicht gelöst werden können. Dennoch gibt es auch auf Praxisebene Möglichkeiten, etwas zu verändern und so mehr Kinder und Jugendliche aus sozioökonomisch benachteiligten Familien zu fördern und für MINT-Angebote zu gewinnen. Dieses Thema wurde auch auf der Jahrestagung 2023 von MINTvernetzt in den Panels und Workshops viel diskutiert. Wir haben einige Eurer Ideen und Vorschläge gesammelt und hier zusammengestellt.

Eure Ideen: Praxis-Tipps für die außerschulische MINT-Bildung

  1. Angebote leicht verständlich und anschaulich beschreiben. MINT-spezifische Sprache kann schnell elitär und ausgrenzend wirken. Kinder und Jugendliche sowie ihre Eltern sollten sofort verstehen, worum es bei einem außerschulischen MINT-Projekt geht. Übrigens: Viele von Euch waren sich einig, dass schon das Akronym „MINT“ abschreckend wirken kann, weil nicht alle wissen, was sich dahinter verbirgt. Mit konkreten Beschreibungen statt abstrakter Begriffe kann man mehr junge Menschen für das eigene Angebot begeistern.
  2. Sprache verwenden, die alle Menschen einschließt. Nur so können sich alle Zielgruppen mit ihren unterschiedlichen Diversitätsdimensionen auch angesprochen und „mitgemeint“ fühlen. Hierzu gibt es hilfreiche Tipps und Handreichungen wie die der Koordinierungsstelle Chancengleichheit Sachsen.
  3. Inhalte spielerisch aufbereiten. Kinder und Jugendliche begeistern sich oft mehr für Aktivitäten, die kurzweilig, kreativ und erfolgversprechend sind. Gamification-Elemente etwa wecken Interesse, sorgen für Belohnungsmomente und können ein Gefühl von Selbstermächtigung erzeugen.
  4. Zielgruppen dort ansprechen, wo sie auch wirklich sind. Denn nur, wenn Kinder bzw. ihre Eltern von den Angeboten erfahren, können sie diese auch wahrnehmen. Geeignete Orte, an denen man außerschulische MINT-Angebote für diverse Zielgruppen bewerben kann, können etwa Sportvereine, Jugendclubs oder Stadtbibliotheken sein – aber auch etwas ungewöhnlichere Plätze wie die Kinderarztpraxis oder der Supermarkt.
  5. Gezielt MINT-Role-Models einsetzen. Je stärker sich Kinder und Jugendliche mit ihrem diversen Hintergrund in den Menschen wiedererkennen, die die MINT-Projekte durchführen, desto besser. Generell sollten sich MINT-Akteur:innen ihrer eigenen Rolle und Sozialisation bewusst sein und auch Privilegien und Bias, die sie selbst möglicherweise haben, reflektieren. Eine spielerische Hilfestellung dazu bietet zum Beispiel die Übung „Privilege Walk“ der Charta der Vielfalt.

Das können MINT-Unternehmen für mehr Diversität tun

Auch Unternehmen im MINT-Bereich können dazu beitragen, mehr Menschen mit diversen sozialen Hintergründen oder anderen Diversitätsmerkmalen in ihre Teams zu integrieren – und so auch dem MINT-Fachkräftemangel ein Stück weit zu begegnen. Ein Prozess, der Zeit und Ressourcen erfordert, aber von dem am Ende alle Seiten profitieren. Auch hierzu gab es einige Vorschläge im Rahmen der MINTvernetzt-Jahrestagung:

  1. Offenheit für Diversität sichtbar machen. Das kann schon bei den Stellenausschreibungen passieren, indem diversitätssensible Sprache verwendet und explizit auf den Wunsch nach Bewerbungen von Menschen mit allen Diversitätsmerkmalen hingewiesen wird.
  2. Diversität in die Führungskultur integrieren. Durch Schulungen in Leitungsteams und Austauschformate mit Mitarbeitenden kann ein stärkeres Bewusstsein für den Umgang mit Menschen aller Diversitätsdimensionen entstehen.
  3. Angestellte bedarfsorientiert unterstützen und weiterbilden. Ein begleitendes Mentoring oder auch Sprachunterricht kann Mitarbeitenden mit schwierigen Startbedingungen helfen, die eigenen Fähigkeiten zu entfalten und sich als Teil des Teams zu verstehen.

Lese-Tipp

Hilfestellungen dazu, wie Unternehmen diversitätssensibel agieren können, bietet zum Beispiel die Handreichung „Diversitätsorientierte Organisationsentwicklung“ der RAA Berlin.

1 mmb Institut im Auftrag von MINTvernetzt (Hrsg.) (2023): Mehr Diversität in der MINT-Bildung. Chancenungleichheit aufgrund sozialer Herkunft: Ursachen und Lösungsansätze.
2 Anger, Christina; Betz, Julia; Kohlisch, Enno; & Plünnecke, Axel (2022): MINT-Herbstreport 2022. MINT sichert Zukunft, Gutachten für BDA, Gesamtmetall und MINT Zukunft schaffen.
https://www.iwkoeln.de/studien/christina-anger-julia-betz-enno-kohlisch-axel-pluennecke-mint-sichert-zukunft.html
3 acatech & Joachim Herz Stiftung (Hrsg.) (2022): MINT Nachwuchsbarometer 2022.
https://www.joachim-herz-stiftung.de/fileadmin/Redaktion/MINT_Nachwuchsbarometer_2022.pdf
Charta der Vielfalt: Privilege Walk
https://www.charta-der-vielfalt.de/fileadmin/user_upload/Diversity-Tag/2022/Deutscher_Diversity-Tag_2022/DDT22_Privilege_Walk_Materialien.zip

Koordinierungsstelle Chancengleichheit Sachsen (Hrsg.) (2021): Ausgesprochen vielfältig. Diversitätssensible Kommunikation in Sprache und Bild.
https://www.kc-sachsen.de/files/chancengleichheit/Publikationen/2104_Koordinierungsstelle_Ausgesprochen_vielf%C3%A4ltig_PDF.pdf

MINTvernetzt: Digitale Games in der MINT-Bildung einsetzen und selbst entwickeln.
https://mint-vernetzt.de/news/digitale-games-in-der-mint-bildung-einsetzen-und-selbst-entwickeln

Regionale Arbeitsstellen für Bildung, Integration und Demokratie (RAA) e. V. (Hrsg.) (2017): Diversitätsorientierte Organisationsentwicklung: Grundsätze und Qualitätskriterien.
https://raa-berlin.de/wp-content/uploads/2018/12/RAA-BERLIN-DO-GRUNDSAETZE.pdf