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08. Mai 2023

Wie geht diversitätssensible Sprache, Dihia Wegmann?

  • Diversität
  • Gender

Geschätzte Lesedauer: ca. 8 Minuten

Wie kommuniziert man heute achtsam? Was gibt es im täglichen Umgang miteinander in Sachen Diversität und Diskriminierung zu beachten? Wir haben mit Dihia Wegmann von der Fachstelle Gender & Diversität NRW (FUMA) gesprochen. Die Bildungsreferentin erklärt, was man im Alltag wie formuliert, gibt konkrete Beispiele für wertschätzende Kommunikation und sagt, was MINT-Akteur:innen bei ihren Angeboten beachten sollten.

MINTvernetzt: Dihia, wo fange ich an, wenn ich mich noch nicht mit Diversität und Diskriminierung auseinandergesetzt habe?

Dihia Wegmann: Ich glaube, dass Ehrlichkeit und Mut zur Lücke ein guter Schritt sind. Offen zu sagen: „Ich bin unsicher, bisher hatte ich diesen Fokus nicht. Ich handle nach bestem Wissen und Gewissen, aber es kann sein, dass ich manches nicht beachte. Bitte weise mich darauf hin.“ Man kann nicht alles, was die letzten Jahre an einem vorbeigerauscht ist, nachholen. Sondern schauen, welche kleinen Schritte möglich sind. Was kann ich in dem Rahmen, in dem ich mich bewege, ausrichten? Im Büro könnten etwa die Toiletten umbenannt werden, damit sich alle Menschen in ihren Geschlechtern angesprochen fühlen. So etwas sendet wichtige Signale.

Wie kann ich mich selbst weiterbilden?

Indem ich immer dann genau zuhöre, wenn Menschen sprechen, die sonst nicht zu Wort kommen. Ihre Ansichten eröffnen einem immer neue Perspektiven. Zweitens: sich durch Lesen weiterbilden. Drei Bücher, mit denen man unheimlich toll einsteigen kann: „Exit Racism“ von Tupoka Ogette[1], das empfehle ich auch für ganze Teams. „Why we matter“ von Emilia Roig[2] ist ein bisschen komplexer, ein dickes Buch, es spricht auch Intersektionalität an. Mein dritter Tipp: „Der weiße Fleck“ von Mohamed Amjahid[3].

Welche Bücher empfiehlst du für Kinder?

Bevor Erwachsene mit Kindern über Diskriminierung sprechen, empfehle ich, erst einmal das Buch „Gib mir mal die Hautfarbe: Mit Kindern über Rassismus sprechen“[4] zu lesen. Kinder stellen viele Fragen und bevor man bei den Erklärungen unsicher ist, sollte man sich im Vorfeld ein bisschen damit beschäftigt haben. Bei Kinderbüchern würde ich generell auf Empowerment setzen, in denen zum Beispiel Schwarze oder nicht binäre Kinder in einer selbstverständlichen Hauptrolle auftauchen. „Julian ist eine Meerjungfrau“[5] ist ein sehr schönes Beispiel für eine solche Geschichte, es geht um ein Schwarzes, vielleicht nicht binäres Kind – wunderschön erzählt. „Nelly und die Berlinchen“[6] handelt von Freundinnenschaft auf dem Spielplatz. „Morgens bei uns“[7] erzählt eine morgendliche Situation in einer Familie, das Kind hat einen Schwarzen Papa und eine weiße Mama. Die Reihe „Little people, big dreams“[8] mit den Folgen Rosa Parks, Muhammad Ali und Zaha Hadid finde ich auch super. Für ältere Kinder empfehle ich das sehr hübsch illustrierte Buch „Das Buch vom Antirassismus[HR1] “[9].

Wie schafft man es, seinen Blick für Rassismus-Erfahrungen zu schärfen?

Wir kommen in jedem Fall nicht drum herum, viel Zeit in die Auseinandersetzung mit uns selbst zu investieren. Anfangen würde ich mit dem Privilegien-Test, er steht kostenfrei im Internet zur Verfügung. Es gibt ihn unter den Stichworten „Check your privilege“ und „Privilegien-Test“. Ich empfehle auch, sich bei der Charta der Vielfalt[10] die Vielfaltsdimensionen anzugucken und für sich herauszufinden, in welcher Kategorie man steht. Dort gibt es auch eine Toolbox[11] zur antirassistischen Bewusstseinsbildung.

Ist es auch deshalb wichtig, sich mit Diskriminierung auseinanderzusetzen, weil alle Menschen früher oder später Altersdiskriminierung erfahren werden?

Vorher haben wir alle eine andere Diskriminierungsform gemeinsam: Es ist die Diskriminierung als junger Mensch, als Kinder und Jugendliche. Wir können uns bestimmt alle noch an Situationen erinnern, in denen Erwachsene uns etwas verboten haben und wir tief in uns spürten: Dieses Verbot hat nichts damit zu tun, was ich schon kann und was man mir zutrauen könnte! Sondern schlichtweg damit, dass mir gesagt wird: Du bist zu klein oder zu jung. Wenn wir uns an diese Situationen erinnern, spüren wir deutlich: Diskriminierung ist etwas Emotionales, aber eben auch strukturell und institutionell. Dieses: Hey, was hier passiert, ist ungerecht – genau so fühlt es sich an, diskriminiert zu werden.

Hast du das Gefühl, dass Frauen sensibler mit dem Thema Diskriminierung umgehen?

Das glaube ich eher nicht. Denn das würde voraussetzen, dass wir Frauen alle wissen würden, dass wir auch noch diskriminiert werden. Das ist sehr vielen aber nicht klar, weil Diskriminierung eben so funktioniert, dass wir es oft selbst nicht mitbekommen, wenn wir diskriminiert werden. Ich glaube, dass sich Frauen eher mit Diskriminierung auseinandersetzen, weil es etwas mit Care zu tun hat. Weil es hier um Beziehungspflege und das gesellschaftliche Zusammenleben geht. Die weibliche Sozialisierung im Patriarchat sieht eben vor, dass diese Aufgabe Frauen zufällt. Die Anti-Rassismus-Expertin Tupoka Ogette sagte einmal, dass auf ihren Veranstaltungen überwiegend Frauen seien. Weil sich Männer durch ihre Sozialisation gar nicht angesprochen fühlen, Beziehungsthemen zu bearbeiten.

Welche Komplimente kommen bei Menschen mit Rassismus-Erfahrungen nicht gut an?

„Du sprichst aber gut Deutsch.“ Wir wissen aus der Rassismus-Forschung, dass selbst bei nicht weißen deutschen Muttersprachler:innen oft ein Akzent gehört wird. Unser Gehirn ist so gepolt, dass eine Person, die wir als nicht weiß einordnen, ein gebrochenes Deutsch spricht. Dieses Kompliment verrät: Ich habe dich migrantisch eingeordnet.

Oft ist das aber doch gut und wertschätzend gemeint, oder?

Stimmt, aber wenn die Person Deutsch-Muttersprachler:in ist, entsteht eine unangenehme Situation, weil sie ein Machtgefälle aufmacht. Die Idee ist aber, sich immer auf Augenhöhe zu begegnen. Ich kann dieses Kompliment jemandem machen, von dem ich weiß, dass er oder sie vor einem Jahr nach Deutschland kam und sich im Sprachkurs abrackert. Etwa so: „Ich kann mich schon super mit dir unterhalten und wünschte, mein Englisch wäre so gut wie dein Deutsch.“

Welche Beispiele fallen dir noch ein?

Im Kontext von muslimischem Rassismus fällt mir ein, dass Muslim:innen im Ramadan immer die gleichen Fragen gestellt bekommen: „Ach, du darfst noch nicht mal Wasser trinken?!“ Das ist schon ein Klassiker, darüber gibt es viele Memes. Viele Muslim:innen fragen sich dann: Mensch, wo lebt ihr denn? Dies ist ein hochgebildetes Land, aber euch fehlt Basiswissen über eine Religion oder einen Lebensalltag, den so viele Menschen auf der Welt haben. Solche Sätze kann man gut ersetzen durch: „Ich wünsche dir eine schöne Ramadan-Zeit.“ Bei Kolleg:innen könnte man nachfragen: „Wünschst du dir irgendwas bei uns im Team? Passen die Meeting-Zeiten diesen Monat für dich?“. Das ist eine ganz andere Grundlage für Wertschätzung.

Darf man „Woher kommst du?“ fragen?

Ich würde davon abraten, die Frage in Smalltalk-Situationen zu stellen. Denn meistens ist es so, dass Menschen, die Rassismus-Erfahrungen machen oder die zu „den anderen“ gemacht werden, diese Frage in Situationen gestellt bekommen, in denen man sich eigentlich noch gar nicht kennt. Die Frage, woher man kommt, suggeriert: vermutlich nicht von hier. Die Antwort hat oft mit privaten Familiengeschichten zu tun. Das sind Gespräche, die wir führen, wenn wir uns vertrauen.

Hier zählt also Taktgefühl?

Richtig. Interesse an anderen Menschen zu haben oder der Wunsch, ein Gespräch in Gang zu bringen, sind nichts Negatives. Es ist aber wichtig, wegzugehen vom persönlichen Interesse hin zu der Person, die ich frage. Wenn ich weiß, dass es Diskriminierungs- und Rassismus-Erfahrungen gibt und die Person mir gegenüber vermutlich betroffen ist, dann stelle ich meine Frage erst, wenn man sich besser kennt. Denn vermutlich begleitet diese Frage die Person schon ihr ganzes Leben. Sie vermittelt ihr immer wieder aufs Neue: Du bist nicht von hier.

Wie könnte man die Frage aber höflich stellen?

Es kommt darauf an, wie ich frage. Toll ist es, wenn ich erst einmal Informationen von mir preisgebe. Zum Beispiel: „Ich bin gerade von Köln hierhergezogen und es war total schwierig, eine Wohnung zu finden. Wie war das bei dir? Kommst du hier aus der Stadt oder bist du auch zugezogen?“ Da haben wir einen gemeinsamen Nenner. Dann kann mir mein Gegenüber antworten: „Ich bin von hier. Zum Glück habe ich das Problem nicht, denn ich wohne noch zuhause.“ Und schon haben wir einen schönen Gesprächsverlauf.

Wie spricht man in einer E-Mail den oder die Empfänger:in korrekt an, wenn man das Geschlecht nicht kennt oder den Vornamen nicht zuordnen kann?

Heute wird oft gar nicht mehr „Sehr geehrter Herr“ oder „Sehr geehrte Frau“ geschrieben, sondern „Guten Tag“ und dann direkt Vorname und Nachname. So umgeht man die Anrede und ist trotzdem höflich. Auch hier ist es wieder toll, bei sich selbst anzufangen und in der eigenen E-Mail-Signatur zu schreiben: „Ich bin bemüht, keine Geschlechtszuschreibung in der Anrede zu machen. Teilen Sie mir gerne mit, wie ich Sie anschreiben darf. Meine Pronomen sind sie und ihr.“

Was können Pädagog:innen und MINT-Akteur:innen im Umgang mit Kindern und Jugendlichen, mit Gruppen und Klassen in Bezug auf Diversität richtig machen?

Den Fokus auf die Kinder und Jugendlichen richten. Und schauen: Was beschäftigt sie? Viele von ihnen teilen ähnliche Lebensrealitäten, sei es, dass sie bei TikTok sind. Ich rate, darüber ins Gespräch zu kommen. Beim Erstellen von Flyern, Postern oder Broschüren würde ich auf die Bildauswahl achten: dass da nicht Stereotype reproduziert werden. Beispielsweise ausschließlich Jungen, die etwas mit Technik machen. Sondern dass die Bilder eine Vielfalt widerspiegeln. Es geht darum, dass Kinder sich wiederfinden, sich angesprochen fühlen und denken: Hier bin ich richtig.

Und wenn es konkret um Workshops und Unterricht geht?

Themen und Fragestellungen aufnehmen, die sich nicht nur an weißen, europäischen, christlichen Werten orientieren. Wenn es um Gerichte geht, könnte man Obst und Gemüse nehmen, das aus anderen Regionen kommt, wie etwa Datteln und Granatäpfel. Oder die Frage: Was passiert eigentlich im Körper, wenn man fastet? So etwas interessiert alle Kinder, sie sind von Natur aus wissbegierig. Es gibt von unterschiedlichen Institutionen interkulturelle Jahreskalender[12]. Die könnte man sich bei der Planung der Angebote anschauen, so kommt man vielleicht auf eine Idee wie: Ostern, Pessach und Ramadan fallen dieses Jahr auf einen Zeitpunkt. Lass uns doch mal angucken: Wie funktionieren Kalender? Das ist für die Gruppe das Signal, dass alles normal, in Ordnung und Teil unser aller Lebensrealität ist.

Welchen Tipp hast du abschließend für MINT-Akteur:innen?

Wenn ich die Ressourcen habe, Aufträge zu vergeben, würde ich immer schauen, dass ich Menschen einlade, beauftrage, einen Job gebe, die neue Perspektiven mitbringen. Ich denke da an Vorträge oder Beiträge in Fachzeitschriften. Es geht um Perspektiven, die in der Regel nicht repräsentiert sind – und das sind alle die, die nicht weiß und cis-männlich sind. Schließlich brauchen wir das Wissen von allen Menschen, sonst haben wir ein Puzzle mit vielen Lücken.

Vielen Dank für das Gespräch.

[1] Ogette. T. (2018). Exit RACISM: Rassismuskritisch denken lernen.

[2] Roig, E. (2021). Why We Matter: Das Ende der Unterdrückung.

[3] Amjahid, M. (2021). Der weiße Fleck: Eine Anleitung zu antirassistischem Denken.

[4] Fajembola, O. & Nimindé-Dundadengar, T. (2021). „Gib mir mal die Hautfarbe“: Mit Kindern über Rassismus sprechen.

[5] Love, J. (2020). Julian ist eine Meerjungfrau.

[6] Beese, K. (2019). Nelly und die Berlinchen: Die Schatzsuche.

[7] Corson, K. C. (2018). Morgens bei uns!

[8] Sánchez Vegara, M. I. Little people, big dreams.

[9] Jewell, T. (2020). Das Buch vom Antirassismus.

[10] Charta der Vielfalt (2023): www.charta-der-vielfalt.de.

[11] Verlinkung: https://www.charta-der-vielfalt.de/aktivitaeten/toolbox-antirassismus/.

[12] BAMF (2023): https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/interkultureller-kalender-2022-A1.html?nn=282388