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02. Juni 2022

„Kreativität ist der Schlüssel – wir müssen sie fördern“

  • Gender
  • Innovation
  • MINT+

Geschätzte Lesedauer: ca. 5 Minuten

Die Frage ist ein Dauerbrenner: Wie gewinnen wir Mädchen und junge Frauen für MINT-Themen? Prof. Dr. Nicole Marmé ist Professorin für Didaktik der Naturwissenschaften mit dem Schwerpunkt Physik und Chemie an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Sie weiß: Der künstlerisch-kreative Ansatz ist eine gute Möglichkeit. Von ihren Erkenntnissen erzählt sie uns im Interview beim Thinkathon.

Frau Marmé, gibt es Forschungen dazu, ob Mädchen mit einem künstlerischen Zugang besser für MINT-Themen zu begeistern sind?

Hier fehlen noch fundierte wissenschaftliche Erkenntnisse, aber bei unseren Projekten merken wir, dass wir eine sehr viel größere Bewerbungszahl von Mädchen haben, wenn sie in die künstlerisch-kreative Richtung gehen. Das Interesse der Mädchen lässt sich durch kreative Ansätze ganz klar steigern. Mädchen sind dann engagierter – das hat uns auf die Idee gebracht, auch bei unseren reinen Mädchenprojekten diesen künstlerisch-kreativen Ansatz weiterzuverfolgen.

Ist es Ihrer Erfahrung nach ein Problem, wenn Jungen und Mädchen gemeinsam MINT-Unterricht haben?

In der Grundschule haben wir das Thema Mädchen vs. Jungen noch gar nicht so extrem. Solange die Kinder nicht in der Pubertät sind, können sie gut zusammenarbeiten. Danach sehen wir zunehmend die Schwierigkeit, dass Jungen gerade im MINT-Bereich eine Dominanz zeigen (wollen) und Mädchen sich oft unterordnen und die Jungen machen lassen. Diese wird im Verlauf der schulischen Laufbahn immer deutlicher. Deswegen bin ich ein großer Fan davon, ab einem gewissen Alter nicht immer in heterogenen Gruppen zu unterrichten. Mädchen sollten im MINT-Bereich Möglichkeiten bekommen, ohne männliche „Führung“ ihre Erfahrungen zu machen und so ihre Selbstwirksamkeit bezüglich MINT zu steigern.

Haben Sie auch dazu Studien durchgeführt?

Ja, hauptsächlich im Bereich Technik. Wir ließen im Klassenverband Modelle von Windkraftwerken bauen. Sobald wir einen Jungen in einer Mädchengruppe haben, dominiert er das Geschehen – und zwar ab der siebten, achten Klasse. Er sagt den Mädchen, was zu tun ist. Sie arbeiten es fleißig ab und haben hinterher kein Gefühl der Selbstwirksamkeit. Ich bin der festen Überzeugung: Wenn es irgendwie geht, sollten die Gruppen zumindest zeitweise aufgeteilt werden. Es gibt Schulen, die für den naturwissenschaftlichen Unterricht die ganze Sekundarstufe I in Mädchen- und Jungenklassen aufteilen. In der Oberstufe können sich die Mädchen dann besser behaupten.

Wie ist die Erfahrung mit Gruppen, in denen ausschließlich Mädchen sind?

Im Gegensatz zu Jungen legen Mädchengruppen meist nicht sofort los, sondern arbeiten strukturierter und geplant, hinterher haben sie oft bessere Ergebnisse als die Jungengruppen. Häufig sind sie hiervon „überrascht“ – wir müssen Mädchen dieses Selbstbewusstsein geben! Dann bekommen sie Lust, sich weiter an solchen Projekten zu beteiligen und später in einen technischen Beruf zu gehen. Das Problem ist aber, dass sie häufig in der Pubertät anders von den Jungs wahrgenommen werden möchten und deshalb in MINT-Fächern zurückstecken.

An den Hochschulen wird es ähnlich sein, oder?

Mädchen kommen ja nicht mit schlechteren Voraussetzungen an die Universität, eher das Gegenteil ist der Fall. Trotzdem wiederholt sich in klassisch männlich dominierten Fachgebieten wie Ingenieurswissenschaften oder Informatik das gerade beschriebene Muster, zumal die Frauen hier in einer deutlichen Minderheit sind und auch die Dozent:innen fast ausschließlich männlich sind. Deshalb könnte man hier über reine Mädchenstudiengänge nachdenken. In Niedersachsen gibt es beispielsweise Informatikstudiengänge nur für Frauen. Es wären viele Modelle denkbar – z. B. getrenntes Studium bis zum Bachelor oder einige getrennte Kurse. Oder wenigstens ein frauenspezifisches Unterstützungsangebot an den Hochschulen. Hier sollten wir mutig sein und mit der notwendigen Offenheit verschiedene Wege ausprobieren.

Welche Fächerkombination funktioniert bei MINT+ besonders gut?

Eines meiner Lieblingsbeispiele ist ein Physikprojekt im Kunstunterricht der zehnten Klasse. Da bauen Schüler:innen leuchtende Kunst, elektrisch gesteuerte Lichtinstallationen. LEDs und Widerstände müssen richtig verschaltet werden, es geht also um Physik und E-Technik. Das Beste ist, dass die Klasse die Kunstlehrkraft nicht fragen kann, denn die hat ja kein Fachwissen in Physik. Die Schüler:innen müssen sich also daran erinnern, was sie mal im Physikunterricht gelernt haben – und wenden das theoretische Wissen in einer künstlerischen Aktivität an.

Zum Schluss: Welcher Faktor ist aus Ihrer Sicht entscheidend, um Kinder für MINT zu begeistern?

Geben Sie Grundschulkindern drei Gegenstände in die Hand. Sie beginnen sofort zu experimentieren, sie entwickeln ad hoc Ideen. Schon bei Siebt- oder Achtklässler:innen sieht das leider anders aus und es wird auch in höheren Klassen nicht besser. Die Schüler:innen sind es gewohnt, von einer Lehrkraft vorgekaut zu bekommen, was sie zu tun haben. Sie können ausführen, aber nicht mehr selbst kreativ werden. Dabei ist diese Kreativität genau der Schlüssel – nicht nur für eine erfolgreiche MINT-Karriere. Wir dürfen den Schüler:innen die Kreativität nicht aberziehen, sondern müssen sie weiter fördern!

Zur Person:

Prof. Dr. Nicole Marmé ist Professorin für Didaktik der Naturwissenschaften mit dem Schwerpunkt Physik und Chemie an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Sie leitet die Forschungsgruppe didaktik-aktuell, die eine Reihe von Projekten verantwortet, die Schüler:innen über einen künstlerischen Zugang für MINT begeistern sollen.

Im Rahmen des Thinkathons sind verschiedene Artikel entstanden, die in den kommenden Wochen bei mint-vernetzt.de/news zu finden sein werden.