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„Es geht darum, Mädchen in der Informatik zu sehen“

Wie kann man Mädchen und Frauen für MINT-Fächer – insbesondere Informatik – begeistern, und das möglichst nachhaltig? Professor Ingo Wagner hat mit Kolleg:innen dazu eine spannende Übersichtsarbeit erstellt, in der Erkenntnisse aus über 800 Studien zusammengeführt wurden. Über die Kernelemente und was sowohl MINT-Akteur:innen als auch Eltern richtig machen können, sprach er mit uns im Interview. Eine Zusammenfassung der Arbeit ist ebenfalls auf unserer Website unter MINT-Bildungsforschung zu finden.

Herr Wagner, warum ist es wichtig, dass mehr Mädchen und Frauen in MINT-Fächern vertreten sind?

Ingo Wagner: In Deutschland gibt es zu wenig Fachkräfte, in MINT-Fächern fehlt es vor allem an Frauen. Wenn man sieht, dass 80 % der Menschen, die Informatik studieren oder in IT-Berufen arbeiten, Männer sind, sehe ich da große Potentiale für unsere Gesellschaft. Und dann gibt es noch die pädagogisch-soziologische Perspektive. Es sollte allen Menschen möglich sein, in den Berufen zu arbeiten, für die sie Fertigkeiten und Talente haben. Damit müssen wir aber alle Menschen – auch Mädchen und Frauen – ansprechen, damit sie in den verschiedenen Berufen Erfahrungen sammeln können.

Was hindert Mädchen daran, sich für MINT-Themen zu begeistern?

Das fängt früh an, wenn beispielsweise eine Lehrkraft sagt: „Physik ist doch nichts für Mädchen.“ Dabei ist die Schulzeit ein sensibles Zeitfenster, spätestens hier sollte angesetzt werden, Mädchen auf MINT und IT aufmerksam zu machen. Wichtig ist, dass nicht nur Lehrkräfte eine Rolle spielen, sondern auch das soziale Umfeld.

Wo kann hier im privaten Umfeld angesetzt werden?

Eltern, Familie, Freund:innen, sie alle können Schranken im Kopf erzeugen, die verhindern, dass Menschen ihren Interessen und Begabungen nachgehen. Wir wissen, dass diese Umwelteinflüsse eine beachtliche Rolle spielen und dass wir bei ihnen ansetzen können, um offener und toleranter zu werden.

Was ist für Mädchen hier besonders wichtig?

Mädchen fokussieren sich stark auf weibliche Rollenvorbilder. In der Geschichte gibt es viele wichtige Frauen im Bereich Informatik, die nicht immer gewürdigt wurden, wie es ihnen gebührt. Von ihnen im Unterricht oder im außerschulischen Lernort zu erfahren, kann bei Mädchen viel bewirken. Und es ist auch von Bedeutung, wie Männer zu Frauen in MINT-Fächern stehen, etwa der eigene Vater.

Wie können Eltern hier hilfreich sein?

Es ist wichtig, zuhause eine Offenheit zu kultivieren. Sowohl in der Sprache als auch in den Handlungen, wie man die Kinder unterstützt. Und es ist sehr zu empfehlen, die Tochter auch mal etwas mehr zu ermutigen, ein MINT-Angebot wahrzunehmen.

Müssen Mädchen anders angesprochen werden, um sie für MINT zu begeistern?

Das klassische Mädchen oder den klassischen Jungen gibt es nicht. Wir sollten also nicht nur in einer binären Kategorisierung von Geschlechtern denken, sondern sehen, dass es ein Spektrum von Menschen mit unterschiedlichen Ausprägungen und Merkmalen gibt. Hier können wir ansetzen, um es allen zu ermöglichen, einen positiven Kontakt mit MINT-Fächern zu haben.

Glauben Sie, dass es an Mädchenschulen einfacher ist, Mädchen für MINT-Fächer zu begeistern?

Es gibt tatsächlich einige Studien, die dafür sprechen, um Mädchen einen geschützten Lernraum zu bieten. Wir haben in unserer Vergleichsarbeit aber auch herausgestellt, dass es noch andere Faktoren gibt neben dem Geschlecht. Zum Beispiel die Vorerfahrungen der Kinder. Es könnte eine Möglichkeit sein, Mädchen und Jungen zumindest phasenweise zu separieren. Ich glaube aber, dass es ebenso wichtig ist, eine Binnendifferenzierung im Unterricht vorzunehmen, etwa nach Vorerfahrung und Leistungsstand. Das Geschlecht wäre also nur eine Komponente.

Wie fällt es Mädchen leichter, Feuer für MINT und besonders Informatik zu fangen?

Indem man ihnen die Vielfalt – beispielsweise in der Informatik – deutlich macht. Aktuell ist das Bild oft auf einen männlichen Programmierer beschränkt, der im Keller sitzt und Code schreibt. Davon müssen wir wegkommen und die Vielfalt im Berufsalltag deutlich machen. Etwa, wie sich Programmierer und Programmiererinnen in Teams kommunikativ austauschen und wie sie relevante Probleme interdisziplinär in den Blick nehmen. Das Schreiben von Code ist da ja nur ein Aspekt.

Sie haben in Ihrer Übersichtsarbeit konkrete Handlungsempfehlungen zusammengefasst. Wie können Lehrkräfte und MINT-Akteur:innen sie am besten für ihre Arbeit nutzen?

Wir haben insgesamt 22 Maßnahmen zusammengefasst und in sechs Gruppen eingeteilt. Sie sind nach zeitlichen Abfolgen geordnet, beginnend mit dem Erstkontakt mit Informatik. Wenn man also einen außerschulischen Lernort neu aufbaut, könnte man sich in unserem Maßnahmenkatalog anschauen, was wir für das jeweilige Stadium empfehlen. Später geht es beispielsweise darum, das Interesse der Mädchen langfristig aufrechtzuerhalten.

Welche Handlungsempfehlungen für Lernkontexte sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten?

Praxisnahe und interdisziplinäre Lerneinheiten sind besonders wertvoll für die Lernenden, weil sie so erfahren, warum das Gelernte für sie und die Gesellschaft relevant ist. Das unterstützt Motivation und Interesse und ist eine Komponente, um die Vielfalt und das Facettenreichtum der Informatik deutlich zu machen. Idealerweise auch durch interdisziplinär übergreifende Themen, zu denen die Informatik einen Beitrag leisten kann.

Was war für Sie das überraschendste Ergebnis Ihrer Arbeit?

Am meisten überrascht hat mich, dass unsere Erkenntnisse sehr gut zu Ergebnissen aus der allgemeinen Pädagogik der Didaktik und der Forschung zu Gender und Diversity passen. Insofern waren unsere einzelnen Ergebnisse nicht überraschend, sondern erfreulicherweise sehr gut anschlussfähig an bestehende Erkenntnisse.

Welche Reaktionen haben Sie auf Ihre Übersichtsarbeit bekommen?

Wir haben viel Zustimmung erhalten. Einzelne Personen berichteten, dass sie sich in den Strukturen, die wir beschreiben, wiedererkannt haben. Insbesondere Frauen, die rückblickend sagen: „In meiner Entwicklung gab es auch Schranken.“ Sie konnten genau benennen, was in ihrer Bildungserfahrung schiefgelaufen ist. Wir haben auch viele Anfragen von Gremien der Arbeitsagentur und von Ministerien bekommen, die uns um Beratung und Einschätzung baten, damit die Entscheidungsträger:innen über noch mehr Wissen verfügen. Dort haben wir Vorträge zu unseren Ergebnissen gehalten, um unsere Erkenntnisse weiter in die Praxis zu tragen.

Zum Schluss: Welchen Rat geben Sie MINT-Akteur:innen mit auf den Weg?

Ich würde empfehlen, bei Denk- und Handlungsmustern zu beginnen. Also zu versuchen, die persönlichen Einstellungen zu verändern, was gar nicht so leicht ist. Es geht darum, Mädchen in der Informatik zu sehen und sie dahingehend zu unterstützen. Wir sind schon einen guten Schritt vorwärtsgekommen, alte Denk- und Handlungsmuster aufzubrechen. Aber letztlich braucht es heute mehr denn je Flexibilität im Geiste.

Herr Wagner, vielen Dank für das spannende Gespräch.

Interviewpartner

Ingo Wagner, 40, ist seit 2018 Professor für interdisziplinäre Didaktik der MINT-Fächer und des Sports am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Er studierte Mathematik, Sport, Philosophie und Bildungswissenschaften auf Lehramt an der Universität zu Köln und an der Deutschen Sporthochschule. An den Instituten für Schulsport und Schulentwicklung sowie für Soziologie und Genderforschung war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Deutschen Sporthochschule Köln tätig, an der er 2015 promovierte.


Veröffentlicht am 06.04.2022